Der Bergsturz am Piz Cengalo/Bondo am 23.8.2017
Die Sciora-Hütte und ich
von Wolfgang Zängl
Zuerst möchte ich der CIPRA und ihren Mitgliedsverbänden für die Verleihung des Deutschen Alpenpreises danken. Ich hatte insgeheim gehofft, Preis-los durch das Leben zu kommen.
Sylvia hat sich ja schon bei vielen bedankt. Mein Dank gilt auch allen Weggefährten, vor allem natürlich Sylvia Hamberger selbst, York von Wittern und Daniela Grosse. Und bedanken möchte ich mich bei allen Naturschützern in den verschiedenen Umweltverbänden, Initiativen und Parteien. Sie sind derzeit die einzigen, die sich um Natur kümmern. Wenn sie es nicht tun, tut es niemand. Und angesichts des unverfrorenen Vorgehens der bayerischen Staatsregierung zum Beispiel beim Riedberger Horn ist dieser Widerstand nötiger denn je.
Noch eine kleine Anmerkung zur CSU-Staatsregierung. Staatssekretär Franz Josef Pschierer verteidigte in der Sendung „Jetzt red i“ vom 22.11.2017 die Zerstörung des Riedberger Horns. Originalton Pschierer: „Wir fördern Schleppliftanlagen und Seilbahnen, wenn sie Ganzjahressbetrieb haben. Wir sollten nicht so tun, als ob wir Schleppliftanlagen fördern, wenn sie von Dezember bis Februar in Betrieb sind. Sondern wir sind interessiert am Ganzjahresbetrieb.„ (32 m 22 s) Der Mann vergibt Millionen Euro Steuergelder für Schneekanonen, Beschneibecken und Skilifte und weiß nicht einmal, was ein Schlepplift ist!
Wenn man wie ich in München geboren wurde, ist man schnell in den Bergen – und oft auch genauso schnell wieder draußen.
Im Alter von vier Jahren nahmen mich meine Eltern von der Partnachalm in Garmisch-Partenkirchen auf eine Wanderung mit, die für mich endlos lang wurde. Als ich nicht mehr weitergehen wollte, sagten meine Eltern: „Wenn du hier bleibst, holt dich der Holzfuchs.“ Vor dem hatte ich dann große Angst und lief todmüde weiter. Danach waren für mich Berge für Jahrzehnte uninteressant – gemäß dem alten Sponti-Spruch: „Nieder mit den Alpen – Freie
Sicht aufs Mittelmeer.“
Ich habe für heute Abend einen kurzen Beitrag über den Bergsturz im Bergell am 23.8.2017 vorbereitet, der mich hautnah gestreift hat.
Mein erster bewusster alpiner Bergurlaub führte mich im August 1992 ins Bergell. Ich weiß noch, dass ich im kleinen Cabrio sehr laut Knockin‘ on heaven’s Door von Guns n‘ Roses gehört habe, als ich auf den Parkplatz vom Hotel Bregaglia in Promontogno fuhr. An den
Mienen der Hotelgäste auf der Terrasse erkannte ich, dass ich hier der einzige Guns n‘ Roses-Fan war.
Ich wanderte am nächsten Tag durch das wunderschöne Bondasca-Tal auf die Sciora-Hütte. Die nächsten Jahre habe ich dann den ganzen Kümmerly & Frey-Wanderführer Bergell leergewandert. Das ist sozusagen meine kleine Berg-Heimat.
Das Bergell liegt zwischen Maloja und Castasegna in der Schweiz. Das Bondasca-Tal zweigt bei Bondo und Promontogne nach Osten ab. Meine nächste Wanderung zur Sciora-Hütte erfolgte 2007 im Rahmen unserer Gletscherfotografie. 2016 war ich das nächste Mal auf der Sciora-Hütte, musste aber wegen aufkommendem Nebel wieder absteigen. Am Sonntag, den 20.8.2017 löste ich um 9.21 am
Parkautomaten in Bondo für 10 Franken eine Fahrerlaubnis zum Parkplatz Laret. Dort standen ungefähr 30 bis 40 Pkw. An der Sciora-Hütte fotografierte ich Gletschervergleiche. (Das werden für lange Zeit die letzten Fotos aus diesem inzwischen gesperrten Gebiet gewesen sein.)

Zum Foto des Stuhls vor dem Felsen: Den hatte ich mir ausgeliehen, um auf den Felsen zu kommen, denn da oben ist der Standort des Fotos von der Sciora-Hütte. Die Hüttenwirtin sagte: „Sie waren doch schon letztes Jahr hier.“ Auf meine Frage, warum sie das wisse, sagte sie: „ Da haben Sie sich auch schon einen Stuhl ausgeliehen.“ Drei Tage später wurde das ganze Hüttenteam mit dem Hubschrauber evakuiert. Beim Abstieg fotografierte ich die seit fünf Tagen beobachteten Steinschläge am Piz Cengalo
Acht Bergwanderer, die am Morgen von der Sciora-Hütte abstiegen, wurden verschüttet und nicht mehr gefunden. Die mehr als drei Millionen Kubikmeter hatten eine Geschwindigkeit von bis zu 200 km/h und wurden über fast sieben Kilometer Luftlinie bis nach Bondo transportiert.

Am 25.8. gab es den nächsten Felssturz. In der Nacht vom 31.8. auf den 1.9. kam in Bondo noch einmal eine große Mure herunter: Die Geröll- und Schlammlawine verschüttete Teile der Bergstraße und den gegenüberliegenden Ort Spino, der evakuiert werden musste. Der Weiler Sottoponte existiert praktisch nicht mehr.
Am 15.9. brachen am Piz Cengalo weitere 200.000 bis 500.000 Kubikmeter Gestein ab. Und 500.000 bis eine Million Kubikmeter sind noch oben, von denen niemand weiß, wann sie herunterkommen werden.
Deshalb arbeiteten die Helfer seit dem Bergsturz vom 23.8. täglich von fünf Uhr morgens bis 23 Uhr in der Nacht, um das Aufnahmebecken wieder frei zu bekommen. Pro Tag können 10.000 Kubikmeter Gestein abtransportiert werden

Als Ursache für den Bergsturz in Bondo wird vor allem auftauender Permafrost plus für die Wissenschaftler zunächst unbekannte Wassermassen aus dem Berg genannt. Das Wasser kam nach Angabe unseres Freundes Prof. Max Maisch von der Universität Zürich vermutlich aus der spontanen Verflüssigung des unten liegenden Gletschers Vadrec dal Cengal durch den Aufprall der Bergsturzmassen. Zudem ist die Bergflanke sehr steil. Das Untergrundmaterial des Permafrostbodens in über 2500 Meter Höhe ist im Normalfall ganzjährig durchgefroren. Durch die Klimaerwärmung erfolgt aber ein Auftauen der alpinen Permafrostböden. Entscheidend ist die Temperatur an der Bodenoberfläche: Die Auftautiefe im Sommer reicht von 30 bis 200 Zentimeter. Dies gefährdet auch hoch gelegene Bauten wie die Richterhütte im Zillertal, die inzwischen sanierte Erzherzog-Johann-Hütte am Großglockner oder das Sonnblick-Observatorium im Bundesland Salzburg.
Über fünf Prozent der Schweizer Landesfläche sind Permafrost-Gebiet. Der erste gravierende Bergsturz war 1987 im Veltlin, der nächste dann 1992 in Randa/Mattertal. Und nun 2017 in Bondo. Diese Bergstürze werden durch die Klimaerwärmung natürlich beschleunigt.

Das ist ein Foto von meinem Mautticket vom 20.8.2017, 9.21. Meine Zielpunkte zum Gletscherfotografieren waren: 20.8. Scioragletscher/Sciora-Hütte von Bondo aus, 21.8. Albignagletscher/Albignahütte, 22.8. Zapportgletscher/Hinterrhein, 23.8. Läntagletscher/Vals, 24.8. Zürich. Ich hatte die Tour zuerst andersherum geplant: Dann wäre ich am ittwoch den 23.8. gegen 9.30 in Bondo auf dem Weg zum Parkplatz gewesen: zum Zeitpunkt des Bergsturzes. Man kann die Sciora-Hütte seit dem Bergsturz 2017 nur noch über den Cacciabellapass Nord oder Süd vom Albigna-Stausee aus erreichen. Ich glaube aber nicht, dass ich das will: Ich wäre da ziemlich allein.


Fotos: © Gesellschafrt für ökologische Forschung






Am Montag, den 21.8.2017 war die beobachtete instabile Flanke des Piz Cengalo (3369 m. ü. M), eine Felsnadel mit etwa 10.000 Kubikmetern, komplett abgebrochen, und die Geologen gaben Entwarnung. Wissenschaftler hatten den Cengalo seit Längerem unter Beobachtung, da am 27. Dezember 2011 gegen 19 Uhr schon ein Felssturz mit etwa zwei Millionen Kubikmetern erfolgt war. Deswegen wurde danach ein Aufnahmebecken für 50.000 Kubikmeter Geschiebe mit Kosten von 5,3 Millionen Franken gebaut. Im Sommer 2012 gab es mehrere Murgänge am Bondasca-Bach; am 25.8.2012 kamen nach einem Gewitter 100.000 Kubikmeter herunter. Daraufhin installierte man ein Monitoring- und Alarmsystem. So gab es am Bondasca-Bach etwa einen Kilometer oberhalb von Bondo Reißleinen, welche die Ampeln im Tal auf Rot schalten konnten
Am Mittwoch, den 23.8.2017 gegen 9.30 kam es dann zum Bergsturz am Piz Cengalo mit drei bis vier Millionen Kubikmetern Gestein und Geröll. (Ab einer Million Kubikmeter sprechen Geologen nicht mehr von einem Felssturz, sondern von einem Bergsturz.) Der Alarm wurde ausgelöst und die 200 Bewohner von Bondo evakuiert. Die Hauptstraße wurde gesperrt, die beiden Hütten Sciora und Sasc Furä per Helikopter evakuiert. Ca. 30 PKW von Wanderern wurden mit dem Hubschrauber vom Parkplatz Laret ausgeflogen. Die Hauptstraße ist erst seit dem 24.11.2017 wieder befahrbar.
In der „Südostschweiz“ werden der Bergsturz und seine Folgen genau beschrieben:
https://www.suedostschweiz.ch/ereignisse/2017-08-23/bondo-nach-steinschlag-evakuiert


Die Felsen sind zum Teil gfößer als die LKW und müssen gesprengt werden.
Das Bergell ist kein reiches, aber ein wunderschönes Gebirgstal, das nicht groß zum Klimawandel beiträgt:

Es gibt dort keine Skilifte, keine Schneekanonen, nur eine kleine Gondelbahn mit acht Sitzplätzen zum Albigna-Stausee. Das Bergell ist also ganz anders als Kitzbühel, Sölden, Ischgl etc. À propos Ischgl: Günther Aloys, der Wintertourismus-Ideologe aus Ischgl und eine Art Donald Trump aus Tirol, äußerte zum Problem Klimaerwärmung im Februar 2017: „Wir haben jetzt schon 1200 Schneekanonen. Wir werden dann 5000 Schneekanonen haben. Wir bauen unseren eigenen Gletscher. Das ist kein Problem. In der heutigen Zeit können wir alles tun.“ (ORF, Film Snow Business, 2.2.2017).

Fotos: © Gesellschafrt für ökologische Forschung
Drei Sätze und eine kleine Utopie zum Schluss: 1. Eine weise Erkenntnis des rumänischen Philosophen E. M. Cioran: „Alles in allem ist es angenehmer, von den Ereignissen überrascht zu werden, als sie vorhergesehen zu haben.“ (Cioran, Die verfehlte Schöpfung). Leider haben
wir uns nie daran gehalten. 2. Meine Aktualisierung des Luther-Spruchs mit dem Apfelbäumchen im Luther-Jahr 2017 geht so: „Auch wenn ich wüsste, dass morgen die Welt zugrunde geht, würde ich heute noch einen Geländewagen kaufen.“ 3. Im Mai 2017 haben wir das 40-jährige Bestehen der Gesellschaft für ökologische Forschung gefeiert: 1977 bis 2017.
Mein dort geäußertes Fazit: „Tröstlich ist, dass es ohne unsere Arbeit auch nicht besser aussehen würde.“
Und zum Schluss noch eine kleine Utopie von Hermann Hesse, Die Stadt aus dem Jahr 1910 [Die Märchen, Frankfurt am Main 1975]: „Es geht vorwärts!“ rief der Ingenieur, als auf der gestern neugelegten Schienenstrecke schon der zweite Eisenbahnzug voll Menschen, Kohlen, Werkzeuge und Lebensmittel ankam. Und einige Jahrhunderte später: „Es geht vorwärts“, rief ein Specht, der am Stamme hämmerte und sah den wachsenden Wald und den herrlichen, grünenden Fortschritt auf Erden zufrieden an. Schade, dass diese Utopie im Zeitalter der Klimaerwärmung so nicht eintreffen wird.








